Ein historisches Literaturprojekt

Eine Insel im Atlantik

Bevor João da Nova im September 1502 wieder in Portugal eintraf, war schon im Frühjahr die vierte Flotte auf dem Weg nach Indien unter der Führung Vaso da Gamas ausgelaufen. Die Flotte bestand aus zwanzig Schiffen, aufgeteilt in drei Schwadronen. Die erste Schwadron befehligte er selbst, die zweite wurde von seinem Onkel Vicente Sodré kommandiert und die dritte von seinem Cousin Estêvão da Gama. Sie segelten durch den Südatlantik, um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien.

Auf dem Rückweg von Indien war am Kap der Guten Hoffnung das Schiff von Estêvão da Gama in einem Sturm von den anderen, inzwischen nur noch elf Schiffen, getrennt worden. Er machte sich, nachdem er die anderen Schiffe aus den Augen verloren hatte, auf eigene Faust auf den Weg nach Lissabon.

Am 1. Juni des Jahres 1503 konnten die, vor über einem Jahr, zurückgelassenen Männer der kleinen Flottille unter João da Nova ein einsames Segel am Horizont ausmachen. Es ist die Flor De La Mar unter Estêvão da Gama.

Estêvão stand an Deck. Die Sonne stand hoch am Himmel. Und wenige Augenblick zu vor hatte der Ausguck Land voraus gemeldet. Das sollte seine Insel sein. Ihr wollte er seinen Namen geben Ilha de Estêvão. In seinen Gedanken feilte er schon an dem Satz, den er dem Piloten ins Roteiro diktieren wollte. Er hatte auch im vorherigen Jahr die kleinen Inseln vor der südamerikanischen Küste Trinidae und Martim Vaz entdeckt. Der Wind stand günstig die Nao kam gut voran. Etwa auf dem gleichen Kurs steuerte vor einem Jahr da Nova auf Santa Helena zu. Da Gamas Augen suchten die Küste ab. Da, war das nicht Rauch? Menschen? Doch nicht unbewohnt?

Dann, nach einer halben Stunde die Gewissheit, dort brannte ein großes rauchendes Feuer. Seine Laune sank. Nach einer weiteren halben Stunde konnte man Menschen am Strand ausmachen. Estêvão da Gama lies auf die Bucht zuhalten. Am Strand standen zwei Männer, zwischen ihnen saß ein dritter. Estêvão ließ den Anker werfen und sich mit einigen Bewaffneten in die Bucht rudern. Felswände rahmten die Bucht ein. Sie landeten am Strand. Die drei Männer sprachen portugiesisch, sehr zur Verwunderung von Estêvão und den Seinen. Sie berichteten, dass sie schon ein Jahr hier wären und anfänglich zu acht waren. Aus Angst vor Ansteckung hätte man sie hier gelassen, sie aber mit allem Nötigen versorgt. Die anderen fünf seien tatsächlich verstorben, nur sie hätten sich wieder erholt. Sie berichteten weiter, sehr zu Estêvãos Enttäuschung, dass João da Nova die Insel Santa Helena getauft hätte.

Estêvão ließ die Männer an Bord bringen, Frischwasser auffüllen und einige der Zitronen ernten, die auf der kleinen Rodung in der Bucht wuchsen. Die Nacht verbrachte die Flor De La Mar noch in der Bucht, die die drei Ausgesetzen Baía de tédio, die Bucht der Langeweile getauft hatten.

Früh am Morgen wurde Estêvão da Gama von seinem Piloten geweckt. Der Pilot drängte ihn umgehend auszulaufen, da über Nacht das Wetter sich grundlegend geändert hätte. Estêvão hatte das Rollen und Stampfen des Schiffes schon im Halbschlaf bemerkt. Schnell legte er seine Kleidung an und betrat das Deck.

Große Wolken sanken von den Bergen Santa Helenas herab in die Bucht. Man konnte kaum ein paar Meilen sehen. Estêvão gab umgehend die Order zum Anker lichten und Segel setzen. Man konnte zusehen, wie die Wolken dichter und der Wind böiger wurde.

Der Wind kam von Südosten und es bedurfte schon einiger Erfahrung und vor allem seemännischem Können die Flor De La Mar aus der Bucht zu manövrieren. Schnell nahm sie auf der offenen See Fahrt auf. Nun setze ein heftiger Regen ein. Wer sich noch an Deck aufhalten musste, wurde nahezu ausgepeitscht. Ganz besonders übel erging es dem Mann im Mastkorb. Er versteckte sich hinter den Planken und unter einer Persenning. Er betete zur Jungfrau Maria, dass nicht ein Gewitter seine Lage noch unerträglicher machte.

Er saß längere Zeit zusammengekauert unter der Plane. Plötzlich zuckte es durch seinen Körper, er war eingeschlafen. Das Trommeln des Regens hatte aufgehört. Er wagte einen Blick aus dem Krähennest. Die Sonne konnte man hinter den Wolkenmassen erkennen. Sie stand schon sehr hoch. Hoffentlich, dachte er sich, hat niemand bemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Dann stand er auf und sah über den Rand seines Krähennestes. Er wagte kaum den Mund zu öffnen. Wenige Meilen von Ihrer Position, an Steuerbord nahm er eine Silhouette war – eine Insel. Dann rief er laut.

Fragend sahen sich Estêvão und der Pilot an. Sie standen über eine Seekarte gebeugt in der winzigen Kajüte. „Der Mann im Ausguck“, vermutete der hagere Pilot. Beide Männer stürzten auf Deck. Im Krähennest stand der eben noch Verzweifelte, wies nach Steuerbord und rief „Land, Land!“

Estêvão sah ganz deutlich eine Insel. Beinahe geistesgewärtig und beseelt von der Einmaligkeit der Chance rief er, „das ist sie! Ilha de Estêvão!“ Etwas überrascht sah der Pilot seinen Kapitän an. Estêvão tanzte trotz des wieder einsetzenden Regens und des schweren Seegangs auf dem Achterkastell. „Wir müssen vor Anker gehen“, befahl er. Der ohnehin schon hagere und blasse Pilot verlor noch mehr an Gesichtsfarbe und empfahl, „wir sollten auf der offenen See bleiben und dem Wetter davon fahren“. Doch Estêvão schien sich seiner Sache sicher.

Zwei Stunden bemühten sie sich durch einige interessante und sehr professionelle Wendemanöver der Insel zu nähern. Doch dann sah auch Estêvão ein, dass es keinen Zweck hatte.

Gegen Abend ließ der Sturm langsam nach und am nächsten Morgen war herrlichstes Segelwetter. Estêvão beriet sich fast zwei Stunden mit dem Piloten, ob man nicht noch einmal umkehren soll, „um die Insel für den Ruhm Portugals und die Ehre des portugiesischen Königs in Besitz zu nehmen.“ So argumentierte Estêvão, aber der Pilot wusste, dass Estêvão seinen eigenen Ruhm und seine eigene Ehre meinte. Schließlich trieb auch Estêvão das Heimweh nach Hause. Umkehren hätte tagelanges Suchen bedeutet. Währenddessen hätte eine Tagelange Flaute aufkommen können. Das Risiko wäre einfach zu groß, zudem man noch bis September, also gute drei Monate, auf See sein würde, bis Lissabon in Sicht käme.

Einer der ersten Wege für einen erfolgreichen Kapitän der portugiesischen Flotte war der Gang zum Kartografen. Sein Roteiro und weitere Unterlagen unter dem Arm ging Estêvão da Gama über den großen Platz am Hafen zur Casa da Índia. Hier waren auch die Kartografen untergebracht.

Die Kontrolle am Eingang war sehr intensiv. Es hieß, so erfuhr Estêvão, dass sich Spione in der Stadt befänden. Ein Soldat begleitete Estêvão bis zum Raum der Kartografen. Vor einer großen, dunklen Tür stand ein Soldat mit Hellebarde und Rapier. Der Soldat klopfte und öffnete die Tür. Estêvão trat ein. Es war ein großer Raum voll mit unendlich vielen Pergamentrollen, Büchern, Kladden, Kuhhäuten, Gestellen zum Spannen der Häute, Tintenfässer und Gänsekielen. Darunter konnte er große, schwere Tische ausmachen. Es roch ein bisschen nach Gerberei und der salzigen Luft vom Meer.

Ein älterer Mann brüllte gerade einen recht gut gekleideten Mann an und wies ihm die Tür. Ein weiterer Soldat, der ebenfalls anwesend war zog sein Rapier ein Stück aus der Scheide, so dass man das blanke Eisen sah. Der gutgekleidete Mann trat daraufhin die Flucht an, flog fast über Estêvão und stolperte den Flur entlang. Der Soldat sah Estêvão grimmig an und kam einen Schritt näher. Der ältere Mann wies ihn an seine Waffen stecken zu lassen, „dieser Mann ist mir wohl bekannt“, sagte er, „tretet näher da Gama.“

„Wer war der gut gekleidete Mann, der Eure Stube so fluchtartig verlies“, fragte Estêvão.

„Ein italienischer Spitzbube, Albert Cantino. Er ist als Diplomat im Auftrag des Herzogs von Ercole aus Ferrara unterwegs. Ich bin der Meinung, er sei ein Spion. Doch ich konnte ihm noch nichts nachweisen. Damit mir Cantino nicht zu aufdringlich wird, habe ich diese beiden grimmigen Soldaten bekommen. Sie wissen vortrefflich mit dem Rapier umzugehen.“

Der alte Mann ging in den hinteren Teil des Raumes auf eine Tür zu, „hier möchte Cantino gerne hineinkommen.“ Er öffnete die Tür. Der Raum war deutlich kleiner – auch hier Landkarten, Pergamentrollen und Bücher. Eigentlich sah es nicht viel anders aus, als in dem großen Raum.

„Vasco war schon bei mir und hat mir einen guten Stapel Aufzeichnung mitgebracht. Was habt Ihr noch für mich?“ Estêvão holte sein Roteiro heraus und schlug den 2. Juni 1503 auf, „nördlich einer Insel, die Santa Helena genannt wird, habe ich bei einem fürchterlichen Unwetter eine weitere Insel entdeckt und sie Ilha de Estêvão getauft. Und dazu noch eine Zeichnung. Starke …“

Der alte Mann unterbrach ihn und sah ihn an, „dass Ihr Entdecker nicht etwas einfallsreicher sein könnt. Der eine nimmt immer den jeweiligen Namenstag, der Nächste scheint alle Heiligen mit Buchten, Bergen, Flüssen und Tälern zu beschenken. Und Ihr nehmt Euren eigenen Namen. Das ist nicht besonders klug. Eines Tages wird es nur noch Orte geben, die Nova Irgendwo oder Santa Ich-weiß-nicht-was oder Estêvão heißen.“

„… starke Strömung in westlicher Richtung und Winde von Südost …“, las Estêvão weiter vor.

Der alte Mann kramte in einem Berg von Papieren und murmelte immer noch irgendwelche Namen. Schließlich zog er ein gebundenes Buch heraus. Er schlug es auf, „nordwestlich von Santa Helena?“

Estêvão nickte, „eine halbe Tagesreise.“

„Habt Ihr sie betreten?“

„Das Wetter ließ einen Landgang nicht zu, aber …“

„Sie heißt Santa Júlia, unterbrach der Kartograf, „sie ist im letzten Jahr entdeckt worden von João da Nova. Habe ich auch schon eingetragen. Er war aber auch nicht an Land. Wenn Ihr an Land gegangen wäret, dann hättet Ihr den Namen bestimmen können, wenn Ihr vor Gericht gewonnen hättet. So bleibt es dabei - Santa Júlia.“

Estêvão biss sich auf die Lippe. Er erinnerte sich an den Disput mit seinem Piloten. Er hätte damals umkehren sollen.

„Habt Ihr sonst noch was für mich?“, fragte der alte Mann. Estêvão übergab ihm sein Roteiro und reichte dem Kartografen die Hand mit den Worten, „falls Ihr noch Fragen habt, wendet Euch an meinen Cousin Vasco.“

Der alte Mann lächelte freundlich und hob gerade an zu sprechen, da unterbrach ihn Estêvão, „ich weiß, alles geheim und wir haben nichts gefunden und nichts gesehen.“

Estêvão verließ die Kartographenstube und auch die Geschichtsschreibung. Seine Spur verliert sich ab hier. Sein Sohn, ebenfalls Estêvão, wird einmal Gouverneur in Indien. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Die ständigen Bemühungen des Alberto Cantino blieben nicht ohne Erfolg. Noch im Jahr zuvor hatte er bedeutende Informationen zu einer Expedition in den Nordwesten des Atlantiks zu seinem Auftraggeber nach Ferrara berichtet. Herzog Ercole zeigte sich überaus großzügig.

Nach ein paar Wochen gelang es ihm tatsächlich einen der grimmigen Bewacher zu bestechen. Ein liebliches, junges Mädchen, das ihm zu geführt wurde, erweichte seine Miene und sein Herz. Die Miene solange, bis Cantino die notwendigen Unterlagen hatte und endgültig nach Italien verschwinden konnte. Und sein Herz solange, bis die Garotte seinem Leben in den Morgenstunden des 15. Januar 1504 auf dem großen Platz vor der Casa da Índia ein Ende setzte. Das junge Mädchen soll schwanger gewesen sein.

Die Informationen über die südamerikanische Küste erreichten jedenfalls die Empfänger in Italien – genauer in Genua. Im Jahre 1505 erschien eine Karte, die von Nicolo de Caveri gezeichnet wurde und äußerst interessante Details enthielt, die nur der Arbeit von Cantino zu verdanken war - und den portugiesischen Seefahrern, die ihr Leben auf Spiel gesetzt hatten.